Neukölln: Lungenentzündung lebensgefährlich
Nicht nur auf dem Lande: Auch den wirtschaftsschwachen Bezirken Berlins laufen die Ärzte davon
Von Christiane Jacke, ddp 24.10.2007Rainer Gebhardt wirkt ausgelaugt und besorgt. 60 Stunden arbeitet der Neuköllner Lungenfacharzt in der Woche. Um 2000 Patienten muß er sich kümmern, bis zu 60 können es an einem Tag werden. Seit Anfang des Jahres wieder zwei Kollegen den Berliner Bezirk verlassen haben, ist der Druck noch größer. Mittlerweile versorgen zwei Lungenärzte den gesamten Bezirk Neukölln mit rund 300000 Einwohnern.
Während viele Regionen in Deutschland über Ärztemangel klagen, gilt Berlin als bestens ausgestattet. Doch innerhalb der Stadtgrenzen sieht es anders aus: Immer mehr Ärzte verabschieden sich aus den sozial schwachen Bezirken und wechseln in die wirtschaftsstarken Gebiete. Dort locken mehr Privatpatienten, mehr Verdienst und weniger Arbeit.
»Wir haben Patienten, die auf Knien um einen Termin betteln, dabei schieben wir schon die Hälfte ohne Anmeldung dazwischen«, erzählt Gebhardt. Wartezeiten von zwei, drei, manchmal auch vier bis fünf Stunden seien an der Tagesordnung. »Und Tuberkulosepatienten müssen wir von vorneherein abweisen«, klagt der 46jährige. Um die Patienten mit der ansteckenden Schwindsucht abgetrennt von anderen zu behandeln, fehlen in der Praxis Platz und Zeit. »Es gibt in Neukölln im Moment eine echte Gefahr, an einer Lungenentzündung zu sterben«, sagt Gebhardt. Er sei derzeit der einzige Arzt im Bezirk, der Lungen röntge und ohne die Bilder werde die Krankheit oft nicht erkannt. Das Röntgen rechne sich für die Ärzte nicht, sagt Gebhardt. Das gleiche gelte mittlerweile für einen Großteil seiner Arbeit. Schuld ist das begrenzte Budget, das Medizinern für die Behandlung von Kassenpatienten zur Verfügung steht. Wer mehr macht, wird dafür nicht bezahlt.
»Ein Privatpatient bringt das Fünffache an Bezahlung«, rechnet der Lungenfacharzt vor. In Neukölln liege der Anteil an Privatpatienten bei einem, in einem wirtschaftsstarken Bezirk wie Steglitz-Zehlendorf bei 15 bis 20 Prozent.
Laut Ärztekammer und Kassenärztlicher Vereinigung (KV) in Berlin ist unter den Ärzten ein Trend zum Umzug in wirtschaftlich starke Bezirke zu beobachten. Die Standortwahl folge einfachen ökonomischen Überlegungen. Noch sei die gesamte Versorgung in Berlin aber gut, und die Wege zur nächsten Praxis seien vergleichsweise kurz per U-Bahn, Bus oder Straßenbahn. Doch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Versicherte und Patienten (DGVP), Wolfram-Arnim Candidus, sagt, gerade für Rentner und Bezieher des Arbeitslosgengeldes II seien auch die paar Euro für eine Busfahrt zu viel.